Inhaltsangabe zu "In der Ferne"
Hernan Diaz’ tiefpoetischer Western-Roman ist „wie Huckleberry Finn, wenn Cormac McCarthy ihn erfunden hätte: eine Abenteuergeschichte und Meditation über die Bedeutung von Zuhause.“ The Times
Der Hawk ist eine Legende im Kalifornien des Goldrausches: Riesenhaft soll er sein, furchtlos, wild. Doch hinter dem Mythos steht die Geschichte von Håkan, der einst aus der schwedischen Heimat nach New York geschickt wurde, zusammen mit seinem großen Bruder, den er unterwegs verliert. Er landet in San Francisco, auf der falschen Seite des unbekannten Kontinents. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen, hin zum neuen gelobten Land. Noch ahnt Håkan nicht, dass er sein Leben lang unterwegs sein wird. Seine berührend schöne, meisterhaft erzählte Geschichte handelt von der Erfahrung radikaler Fremdheit und Einsamkeit, die entwurzelte Menschen zu allen Zeiten gemacht haben.
Der Mensch hinter der Legende
Mitte des 19. Jahrhunderts wachsen die Brüder Linus und Håkan Söderström in einem abgelegenen Bauernhof in Schweden auf. In New York sollen sie es besser haben und so schickt sie der Vater auf diese weite Reise. Doch noch bevor sie das Schiff betreten, verlieren sich die Brüder irgendwo am Hafen aus den Augen. Als Håkan seinen Bruder nicht findet, geht er in letzter Minute an Board eines Schiffes mit Ziel Amerika. Linus ist nicht dort und Håkan versteht erst spät, dass dieses Schiff nie in New York anlegen wird. Es hat Kurs auf Kalifornien genommen. Auf dem Schiff kümmert sich eine Familie um den jugendlichen Håkan, der kein Wort Englisch spricht. In Kalifornien angekommen ziehen sie erst einmal gemeinsam auf der Suche nach Gold los. Es ist die Zeit des Goldrausches und viele träumen von einem besseren Leben im fernen Amerika. Die Suche ist beschwerlich, das Leben ständig in Gefahr, die Natur gnadenlos. Håkan hat seit seiner Ankunft nur ein Ziel vor Augen: Er möchte nach Osten, nach New York und dort seinen Bruder wiederfinden. Die Jahre vergehen, Håkan reist in östliche Richtung entgegengesetzt der Siedlerströme, die in den Westen ziehen. Er durchquert meist zu Fuß, manchmal zu Pferd oder auch mal in einer Kutsche die endlosen Landschaften. Immer mal wieder begleitet er andere Menschen für eine Weile, lernt von ihnen viel Nützliches, nimmt dafür Umwege in Kauf und landet schließlich wieder irgendwo alleine. Bestimmte Vorkommnisse nötigen ihn mehr als einmal zur Flucht und seine Taten sprechen sich herum. Aus Håkan wird eine lebende Legende; er selbst hat davon nichts mitbekommen. Er ist der gefürchtete, berüchtigte „Hawk“ geworden. Irgendwann hat Håkan sein Ziel verloren. „Er blieb stehen, weil es Zeit war. Er war nirgends angekommen. (…) Stille und Einsamkeit hatten seine Zeitwahrnehmung vernebelt. In einem monotonen Leben sind ein Jahr und ein Augenblick gleichwertig.“ (S. 245)
Ich habe mich sehr gerne auf diese Zeitreise in den Wilden Westen mitnehmen lassen. Hernan Diaz gelingt es mit einer schönen, leicht lesbaren Sprache die Atmosphäre der damaligen Zeit einzufangen. Der Roman thematisiert ganz beiläufig die Bedeutung von Fremdheit, Heimat, Entwurzelung, Migration, die Suche nach einem besseren Leben und Menschlichkeit. Håkan kommt immer wieder in Situationen, in denen er existentielle Entscheidungen treffen muss. Sein Ruf, die Legende zu der er wird, hat kaum etwas gemein mit dem Menschen Håkan, in dessen Leben Einsamkeit und Heimatlosigkeit vorherrschen. Ich beende diesen Roman mit einer tief empfundenen Traurigkeit für das Leben dieses Mannes, der nie irgendwo ankommen konnte und einem großen Respekt vor seiner Menschlichkeit, die er selbst nur selten erfahren durfte.